Seit Wochen kommen jeden Tag Tausende verzweifelte Menschen nach tagelangen Fußmärschen ausgehungert in Bangladesch an. Dort sind die Rohingya sicher vor Angriffen, aber es fehlt an Essen und Unterkünften. Die Geschichten der Flüchtlinge gleichen sich.

Iman Sharif teilt sich mit zwölf anderen ein Zimmer in einem Krankenhaus im Süden Bangladeschs. Nur für sechs Menschen gibt es Pritschen, die anderen liegen auf Laken auf dem Boden. Der 25-jährige Sharif ist einer von 50 Flüchtlingen aus dem benachbarten Myanmar, die hier wegen Schussverletzungen behandelt werden. Er hat einen tagelangen Fußmarsch hinter sich – wie die meisten der Hunderttausenden Rohingya, die in den vergangenen gut zwei Wochen in den Bezir Cox’s Bazar gekommen sind.

Sharif machte sich gerade Frühstück, als Dutzende Soldaten und wütende Zivilisten am 2. September in seinem Dorf auftauchten, wie er erzählt. Sie hätten das Strohdach des Hauses seiner Familie angezündet und zu schießen begonnen. «Ich bin einen halben Kilometer weit gerannt, bis mir Soldaten den Weg versperrten», sagt Sharif. «Sie haben mich verprügelt, mir in den Oberschenkel geschossen und mich dort liegen lassen.»

Später hätten andere Flüchtlinge ihm geholfen, nach Bangladesch zu gelangen. Auf dem Weg habe er hohe Flammen aus anderen Dörfern aufsteigen sehen. Seine Eltern und sieben Geschwister seien zur Zeit der Attacke in dem Haus gewesen. Er habe seitdem nichts von ihnen gehört.

Etwa 300.000 Rohingya sind nach neuesten Schätzungen nach Bangladesch geflohen, seit am 25. August in Myanmars Bundesstaat Rakhine erneut Gewalt ausbrach. Rohingya-Rebellen griffen damals Polizei- und Militärposten an, worauf die Armee nach eigenen Angaben mit einer «Räumungsoperation» reagierte.

Die Regierung Myanmars um die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi spricht von einem Kampf gegen Terroristen. Kritiker im Ausland, darunter UN-Generalsekretär António Guterres, befürchten eine ethnische Säuberung. Die Zahl der Todesopfer ist unklar. Was genau in Rakhine geschieht, kann keiner im Moment überprüfen. Die Geschichten der Geflüchteten ähneln sich aber sehr.

Hashim Ullah ist zusammen mit 25 weiteren Rohingya in den Ort Whykong Bazar unterwegs. Der 45-Jährige erzählt, sie hätten 15 Tage gebraucht, um Bangladesch zu erreichen. Sie seien nachts über Serpentinenstraßen gelaufen und hätten sich tagsüber in den Bergen vor Grenzpolizisten und Mobs versteckt. Am 25. August hatten Ullah zufolge mindestens 150 Soldaten ihr Dorf Merullay Purba Para angegriffen. «Wir sind erst einmal weggelaufen. Als wir später zurückkamen, waren die meisten Häuser zu Asche verbrannt.» Sechs junge Männer seien erschossen worden. «Nachdem wir sie unter die Erde gebracht hatten, haben wir das Dorf verlassen.»

Der Exodus der Rohingya hört nicht auf. Zu Zehntausenden strömen sie weiter in das überwiegend muslimische Nachbarland. Manche von ihnen überqueren in Booten den Grenzfluss Naf. Dutzende sind bei dem Versuch ertrunken. Auf Feldwegen aus knöcheltiefem Lehm windet sich eine scheinbar nie endende Schlange erschöpfter und hungriger Menschen an grünen Reisfeldern vorbei in Richtung Hauptstraße. Männer tragen Bündel auf ihren Schultern, Frauen in schwarzen Burkas haben kleine Kinder auf den Armen, Jugendliche schleppen Säcke mit den paar Habseligkeiten, die sie retten konnten.

Entlang der Straßen, an Berghängen und im Wald bauen sie sich aus Bambus und Kunststoffplanen Notbehausungen. Freiwillige Helfer bringen Lebensmittel, und verzweifelte Menschenmengen drängeln sich um die Wagen. Neben Essen werden Decken, Zelte und Medizin gebraucht. Um die Notleidenden versorgen zu können, benötigen die Hilfsorganisationen dringend mehr Geld.

Der 62-jährige Abul Kalam ist mit seiner 20-köpfigen Familie nach langer Reise im provisorischen Flüchtlingslager Balukhali angekommen. Ein Buddhisten-Mob habe ihr Haus angezündet und seinen jüngsten Sohn ermordet. Eine mehr als einen Hektar große Ackerfläche, Rinder und auch etwas Gold hätten sie zurücklassen müssen, erzählt der Großvater. «Unterwegs gab es nichts. Wir mussten Wasser aus Kanälen trinken und Bananenblüten essen.»

Die Angehörigen der muslimischen Minderheit sind staatenlos, seit das damalige Birma ihnen 1982 die Staatsbürgerschaft aberkannte. Etwa 400.000 Flüchtlinge gab es schon vor dem jüngsten Gewaltausbruch in Bangladesch. Sie leben in armseligen Lagern in Cox’s Bazar. Da die Gegend auch Touristen anzieht und die Regierung um die Einnahmen fürchtete, plante sie, die Rohingya auf eine abgelegene Insel umzusiedeln. Weitere Flüchtlinge wollte das Land nicht aufnehmen. Die Massen verzweifelter Menschen sind aber zu groß, um sie abzuweisen. Nun sollen neue Camps in Cox’s Bazar entstehen. Die vorhandenen sind längst überfüllt.

Zafar Ahmed trägt die zwei kleinsten seiner fünf Töchter auf den Armen. Sie seien zu schwach von Hunger und Erschöpfung, um zu laufen. Vier Tage lang hätten sie am Grenzfluss ohne Essen auf ein Boot gewartet. Soldaten hätten seine Frau getötet, erzählt der 31-Jährige. «Ich weiß nicht, wo wir hin sollen.»

Imam Hossain ist bei einer Rohingya-Familie untergekommen, die schon im vergangenen Jahr vor Gewalt in Myanmar geflohen war. «Ich werde nie mehr nach Rakhine zurückkehren, selbst wenn es unabhängig wird», meint der 40-Jährige. «Es ist besser, hier zu sterben.»

Von STIN